DER KUMMER IN DER BIBLIOTHEK
In den Regalen des Kellers der Bibliothek langweilten sich die Bücher so, dass sie jeden Tag beteten, gebraucht zu werden. "Ach, wie wäre es schön, wenn wir ein bisschen Tageslicht bekommen könnten!", "Wenn die Hände der Menschen uns berühren würden!", "Sie würden uns umblättern und wir könnten ein bisschen Luft holen!", "Ach...! Ach...!" Der Kummer der armen Büchlein vertiefte sich jeden Tag mehr und mehr. Manche stritten sich sogar aus lieber Langweile. Vor allem aber waren sie des Streites überdrüssig, der zwischen dem Buch über Pontos und dem Buch über den König Mithridates lag. "Puste deinen Staub nicht über mich! Bleib fern von mir!", sagte Pontos zu König Mithridates. König Mithridates antwortete: "Du bist doch auch nicht sauber! Du bist zerrissen und zu alt! Und obendrein stinkst du!" Die anderen Bücher versuchten wehklagend die beiden zu beruhigen: "Es reicht! Ihr streitet euch jeden Tag und verursacht den schlimmsten Verdruss. Denkt etwas mehr an uns und hört auf damit!" Aber alle Versuche waren umsonst. Die Unruhe wurde jeden Tag größer. Und als ob das noch nicht reichen würde, versuchten Pontos und König Mithridates sich sogar gegenseitig aus dem Regal zu werfen.
Wegen der Auseinandersetzung der beiden Bücher bekamen die Anderen Kopfschmerzen. An
einem solchen schlimmen Tag wurde die schwere Eisentür des dunklen Kellers plötzlich quietschend geöffnet. Mit dem Türknarren kam schlagartig das längst vergessene Tageslicht herein. Es erstrahlte auf dem kalten Steinboden des Kellers als eine dünne Linie. Alle Bücher, auch Pontos und König Mithridates, waren ganz Auge und Ohr. Mit einem nochmaligen Quietschen wurde auch die Lichtlinie auf dem kalten Steinboden dicker. Die vor Aufregung atemhaltenden Bücher sahen einen weißbärtigen Mann mit Mantel, der sich mit einer Hand an der Türklinke festhielt und herein kommen wollte. Da die Bücher jahrelang eine menschliche Berührung vermissten, erregte sie dieser Besuch unheimlich. Sie wollten unbedingt wissen, was er suchte. Pontos ärgerte sofort König Mithridates: "Du wirst gleich sehen, er kommt nur für mich!" "Ich kenne kein langweiligeres Buch als dich. Du hoffst umsonst! Er ist für mich da", parierte König Mithridates.
Der Mann nahm einen Papierfetzen aus seiner Manteltasche. Am vorderen Regal beginnend
sah er sich die Bücher langsam an. Manche nahm er heraus. Nachdem er ihre Namen
gelesen hatte, stellte er sie wieder hin. Der Staub wehte in dichten Wolken vom Regal. Einige
Bücher schlug er niesend auf. Diejenigen, die die menschliche Wärme auf ihren Blättern
gefühlt hatten, waren überglücklich:
- Wie schön sind diese warmen Menschenhände! Was für ein wunderbares
Gefühl! Hätte er nur jedes Blatt angefasst!
Als der weißbärtige Mann mit Mantel am zweiten Regal ankam, konnten diese Bücher vor
Aufregung nicht mehr auf ihren Plätzen stehen bleiben.
- Komm! Komm zu mir bitte! Das Buch, das du suchst, bin ich!
- Bitte nimm mich! Glaub mir, ich bin ein sehr interessantes Buch!
- Nur noch ein Schritt, ein Schritt zu mir bitte!
Jahrelang unberührt gebliebene Bücher auf dem zweiten Regal warteten voller Ungeduld auf
den großen Moment, an dem sie von ihrer Staubschicht erlöst werden konnten. Aber leider
wurden sie bitter enttäuscht. Der weißbärtige Mann mit Mantel begnügte sich damit, das
zweite Regal aus der Ferne anzusehen und ging zur nächsten Reihe weiter. Die Bücher des
zweiten Regals schluchzten:
- Wie lange sollen wir noch warten, bis wir endlich von einer Hand gestreichelt werden?
Der weißbärtige Mann mit Mantel lenkte sich vor dem Regal von Pontos und König
Mithridates lange Zeit ab. Die beiden Streithähne lagen sich sogar in diesem aufregenden
Moment in den Haaren:
- Du, das unbedeutendste Buch der Bibliothek! Schade, dass du hier einen Platz besitzt! Du
solltest lieber in den Altpapierbehälter geworfen werden!
Pontos ließ sich diese unerträgliche Beleidigung natürlich nicht gefallen:
- Es ist mir total egal, dass du irgendwann der König meines Gebietes warst! Wenn ich dich
mit meinem eckigen Einband einmal stoßen würde, würdest du dich auf dem kalten
Steinboden wiederfinden. Klar!
Pontos bedrängte den König Mithridates so, dass dieser auf einem winzigen Platz stehen
musste. In letztem Moment, in dem König Mithridates seine Kräfte verließen und er beinahe
ohnmächtig wurde, nahm ihn der Mann mit seinen Fingerspitzen aus dem Regal. Der
abgekämpfte Pontos fiel in der plötzlich entstandenen Lücke um.
Der weißbärtige Mann mit Mantel blätterte ehrfürchtig im König Mithridates. Er nahm ihn
unter seine Fittiche, erbarmte sich auch des umgefallenen Pontos und nahm ihn in seine
warme innere Handfläche. Er begab sich mit zufriedenem Gesichtsausdruck in Richtung der
schweren Eisentür. Die anderen Bücher bekamen den Staub von Pontos und König
Mithridates ab und mussten fürchterlich niesen: Haaapschi! Haaapschi! Arme Bücherchen, als
ob ihre Kopfschmerzen nicht genug wären, mussten sie noch dazu Schmutz schlucken. Ihr
einziger Trost war, dass ihre unverträglichen Nachbarn verschwunden blieben.
Der weißbärtige Mann mit Mantel lieh Pontos und König Mithridates aus der Bibliothek aus.
Inzwischen erinnerte die Behörde der Bibliothek ihn daran, beim nächsten Besuch seinen
Mantel vorher auszuziehen. Während des Heimweges versuchten die verstrittenen Bücher in
der Tasche des Mannes miteinander keinen Augenkontakt aufzunehmen. An diesem
glücklichen Tag hatten beide keine Lust auf Zank.
Der weißbärtige Mann mit Mantel entstaubte zu Hause mit großer Hingabe Pontos und König
Mithridates. Er klebte die zerrissenen Seiten von Pontos gründlich. Als Pontos König
Mithridates so sauber sah, staunte er:
- Ich kann meinen Augen kaum glauben! König Mithridates, wie schön du bist!
König Mithridates war auch überrascht über das Aussehen von Pontos:
- Pontos, bist du das? Du siehst hinreissend aus!
Der weißbärtige Mann mit Mantel las Pontos und König Mithridates von Zeile zu Zeile. Seine
weichen und warmen Hände streichelten die Blätter eins zu eins. Pontos und König
Mithridates lebten bei ihm als Gast die glücklichsten Momente ihrer Leben. Als sie in der
Bibliothek abgegeben wurden, hatten sie keinen Grund mehr für Streit und Kummer. Sie
wurden gebraucht und das war ein großartiges Gefühl für sie. Auf ihren Plätzen im dunklen
Keller fielen sie aneinander geklammert in einen tiefen, wohltuenden Schlaf.
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Die Übersetzung wurde von Udo Sommer korrigiert.